Was die Notenbanken nicht wissen

Marktupdate 51/2022

Markus Schön, Donnerstag 22. Dezember 2022

Bei der letzten Ausgabe Ihres Schön & Co Marktupdate in diesem Jahr ist es vielleicht interessant, auf das Jahr 2022 zurückzublicken, das so anders war, als von vielen Marktteilnehmern erwartet. Einschneidend ist der Krieg in der Ukraine, der viele Gewissheiten auf den Kopf gestellt hat. Die im Februar 2022 zunächst explodierenden Energiepreise sind deutlich gefallen. Der Ölpreis ist auf Jahressicht 2022 rund 1% im Minus, Gas notiert ebenfalls weit unter den Höchstständen und die Industriemetalle haben ein schlechtes Jahr mit Verlusten im zweistelligen Prozentbereich hinter sich. Insgesamt wird an den Kapitalmärkten das Jahr 2022 aufgrund der Verluste in der Breite in Erinnerung bleiben. In der Kombination ist es mindestens das schlechteste Börsenjahr seit 1937. Rechnet man damals noch nicht bekannte Anlageformen und vor allem Immobilien hinzu, dürfte es historisch kaum einen Zeitraum gegeben haben, der schlechter war. Hierzu tragen die Notenbanken einen wesentlichen Teil bei. Statt zu verstehen, dass man gegen eine Inflation, die aus einem Energiepreisschock resultiert, mit Zinserhöhungen nichts tun kann, gehen viele Notenbanken weltweit gemeinsam den falschen Weg. Dann kommt mit der EZB-Präsidentin Lagarde eine Verantwortungsträgerin hinzu, die die seltsamen Entscheidungen der Notenbank weder kommunizieren kann noch die Expertise zu haben scheint, die Zusammenhänge wirklich vollumfänglich zu durchdringen. Dieses Problem greift in der EZB immer stärker um sich: Fachkenntnis scheint vielfach eher hinderlich zu sein. Daher geht man zwar einen der Höhe nach vielleicht vertretbaren Zinsschritt, aber kommuniziert diesen – ebenso wie den Beginn der Reduzierung der Anleihebestände – schlecht. Eigentlich wäre der Abbau eine gute Nachricht, weil damit ein Instrument wegfallen könnte, das die Kapitalmärkte verzehrt hat.

Durch diese Instrumente einer sehr expansiven Geldpolitik hat sich eine „Vollkasko-Mentalität“ an den Kapitalmärkten ausgebreitet, in der jede Krise spätestens geldpolitisch durch unbegrenzte Liquidität „weggespült“ wird. Dabei haben Krisen auch einen bereinigenden Faktor, wie sich gerade bei USTechnologiewerten zeigt. Der entsprechende Index Nasdaq hat in diesem Jahr mehr als 30% verloren, viele Einzelwerte sind 60 bis 70% im Minus. Dort bereinigen sich gerade auch nicht funktionierende Geschäftsmodelle, die nur durch billiges Geld in Folge der Notenbankpolitik zustande gekommen und „überlebt“ haben. Jetzt müssen diese Unternehmen mindestens ihre Zinskosten verdienen. Dies gelingt immer weniger Unternehmen, wenn die Zinsen auf einem angemessenen Niveau sind. Gleichzeitig wird aber auch immer deutlicher, wie herausfordernd das Marktumfeld 2023 sein wird. Die Folgen der Corona- Lockerungen in China werden massiv unterschätzt, aber auch die Krankheitswelle in Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist ein Belastungsfaktor für die Weltwirtschaft. Auch deswegen fallen die Einkaufsmanager-Indices schwach aus, aber vor allem die Industrieproduktion in Europa zeigt klar rezessive Tendenzen. „Tröstlich“ ist derzeit eben, dass die Krise nicht so tief und so umfänglich wie befürchtet ausfallen wird. Aber durch die Notenbankentscheidungen am Mittwoch durch die US-Notenbank und am Donnerstag durch die EZB, den jeweiligen Leitzins um 50 Basispunkte zu erhöhen, fiel die Hoffnung auf eine Jahresendrallye in sich zusammen. Vielmehr zeigt sich zum Jahresende 2022 noch einmal eindrucksvoll, wie herausfordernd das gesamte Jahr war. Entsprechend nervös wird es auch im Jahr 2023 mindestens an den Aktienmärkten weitergehen. Auf der Zinsseite deutet sich – nicht nur aufgrund der geringeren Zinsschritte der Notenbanken – eine Entspannung an. So gingen auch in den letzten Tagen die Risikoaufschläge zurück und Nachrangpapiere präsentierten sich stabil. Vermutlich wird im kommenden Jahr vor allem die Geldpolitik in China expansiver werden, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Lockerungen insbesondere im 1. Quartal 2023 zu kompensieren. Damit setzt sich das international vorhandene Überangebot an Liquidität fort. Gleichzeitig werden die Rohstoffpreise unter der konjunkturellen Entwicklung weltweit, aber auch insbesondere in China leiden, was wiederum den Inflationsdruck reduziert und ein viel schnelleres Ende der Leitzinserhöhungen nach sich ziehen wird, als von vielen Marktteilnehmer erwartet wird. Entsprechend dürften zunächst Anleihen und im weiteren Verlauf des Jahres 2023 auch Aktien profitieren. Fraglich ist jedoch, ob der Tiefpunkt bei Werten aus dem Technologiebereich erreicht ist und wie sich Digitalwährungen entwickeln werden. Normalerweise werden Risiken wieder stärker gesucht, wenn sich das Umfeld – vor allem auf der Zinsseite – stabilisiert. Davon profitieren dann auch Venture Capital oder Digitalwährungen. Man darf aber weiterhin nicht die bestehenden (geo)politischen Risiken unterschätzen. 

Deswegen ist die aktuelle Marktsituation möglicherweise weniger aussagekräftig. Die politischen Risiken – gerade auch hinsichtlich des Ukraine-Krieges – sind völlig in den Hintergrund getreten. Aber auch andere Konflikte spielen eine untergeordnete Rolle. Lediglich bei der Entwicklung der globalen Verschuldung macht sich dies bemerkbar. Nicht nur Deutschland plant für das kommende Jahr eine Rekordverschuldung, sondern nahezu alle westlichen Staaten, während die energierohstoffreichen Länder weiterhin Haushaltsüberschüsse erreichen. Zunehmend dramatisch wird die Situation hinsichtlich der US-Staatsverschuldung. Dort hat man einen Kompromiss gefunden, um einen temporär technischen Zahlungsausfall durch das Erreichen der US-Schuldenobergrenze zu vermeiden. Nachhaltiges Finanzieren stellt sich auch anders dar, aber letztlich geht es der US-Regierung um die Schaffung eines Wettbewerbsvorteils für die eigene Wirtschaft.

Wenn dieser entstehen sollte, wird er aber nicht genutzt, um damit die Staatsverschuldung wieder zu reduzieren. Entsprechend wird das private Vermögen immer stärker zunehmen, während staatliche Haushalte zukünftig noch mehr unter knappen Mitteln leiden werden. Wer jetzt gut haushaltet, hat als staatliche Institution perspektivisch einen Vorteil. Aber in den USA kann man nicht einmal anraten, den Blick auf erfolgreiche Unternehmen zu lenken. Der vormals reichste Mann der Welt Elon Musk verdankt seinen Reichtum der Politik des billigen Geldes und fehlgeleiteten Subventionen sowie unzureichender Regulierung. Eine stärkere Vermögensbildung auf Kosten der Allgemeinheit hat es bislang kaum gegeben. Deswegen sind die Entwicklungen bei Twitter und die Rückgänge bei Tesla zu begrüßen. Sie setzen zumindest in Ansätzen Grenzen.

Schließlich ist die Frage nicht unwesentlich, ob wir am Beginn einer neuen Krise stehen. Die Konjunkturdaten sind teilweise deutlich schwächer als erwartet. Neben dem deutschen ifo- Geschäftsklima-Index sind vor allem die Daten vom USArbeitsmarkt enttäuschend. Deswegen stellt sich die Frage, ob die US-Dollar-Schwäche, die in der zweiten Hälfte der vergangenen Handelswoche zu spüren war, tatsächlich auf die Rede des USNotenbankpräsidenten zurückgeht oder nicht eine konjunkturelle beachtenswert. Trotz deutlich steigender Corona-Infektionszahlen und damit verbundenen Lockdown gewinnt die Währung mehr als 1,5%. funktioniert Kapitalismus nur, wenn es Regeln gibt, die alle zu beachten haben, und Marktmechanismen nicht außer Kraft gesetzt werden. Deswegen ist es gut, wenn der französische Unternehmer Arnault nun der reichste Mensch der Welt – vermutlich weiterhin nach dem Sultan von Brunei und Wladimir Putin – ist und dies nicht der „Illusionist“ Elon Musk für sich in Anspruch nehmen kann. Ob dieser Wechsel, den man auch als Schritt zu „Old Economy“ mit Produktions- und Handelsunternehmen – natürlich im Luxussektor – verstehen kann, eine grundsätzlichere Bedeutung hat, ist fraglich. Allerdings geht damit ein weiterer Fokus aus dem US-Währungsraum weg, was vielleicht ein Fingerzeug für die Fortsetzung der Schwäche der US-Währung in den nächsten Wochen sein könnte. Insgesamt wird nach unserer Einschätzung der Euro im nächsten Jahr relativ stabil – auch gegenüber vielen rohstoffnahen Währungen – bleiben.

Im Moment sieht es aber danach aus, dass 2022 ein Jahr werden wird, indem keine Assetklasse aus europäischer Sicht positiv bleibt. Selbst der Anstieg des Russischen Rubels hat sich relativiert. Dieser ist auf Jahressicht „nur“ noch 20% im Plus. Für einen angeblich zahlungsunfähigen Staat ist dies beachtlich. Aber auch bei den Edelmetallen weist nur noch Platin einen Anstieg um knapp 3% in diesem Jahr auf. Silber ist nur leicht im Minus, Gold hat etwas stärker verloren, während die ausschließlich industriell benötigten Metalle starke Rückgänge zu verzeichnen haben. Im negativen Sinne unübertroffen ist das „digitale Gold“ der Digitalwährungen, die teilweise mehr als 70% unter dem Kurs vom Jahresanfang 2023 notieren. Diese Entwicklung und die negative Entwicklung in nahezu allen Anlageklassen zeigen, wie herausfordernd 2022 gewesen ist und vermutlich bleiben wird.

Der Text ist unser sonntäglich erscheinendes Schön&Co-Marktupdate, für das Sie sich unter info@schoenco.de jederzeit kostenlos und unverbindlich anmelden können.