Handelstage wie ein vorgezogener Sommerschlussverkauf

Schön_Co_Marktupdate_2022_25_Russische_Botschaft

Marktupdate 25/2022

Markus Schön, Dienstag 21. Juni 2022

 

In der vergangenen Woche kam die EZB zu einer Notfallsitzung zusammen, da die Markterwartungen drohen, die Eurozone zusammenbrechen zu lassen. Anders als 2011/ 2012 wird dies kaum wahrgenommen. Schließlich bestimmen Krieg, Corona, Inflation und Energieversorgung die Schlagzeilen. Einiges ist miteinander verwoben. Es ändert aber nichts, dass die Probleme größer als derzeit wahrgenommen sind. Faktisch ist das Zinsniveau von 4% p. a., an dem Italien vor der Notfallsitzung kratzte, für den Staat und die Volkswirtschaft unbezahlbar. Ganz Südeuropa hat sich auf billiges Geld aus niedrigen Zinsen und Anleihekäufen eingestellt. Nun droht allein die Ankündigung, diese extrem expansive Geldpolitik beenden zu wollen, Europa an die Grenze der Währungsgemeinschaft zu führen. Die Löcher, die Wladimir Putin mit seinen Maßnahmen rund um den Ukraine-Krieg reißt, sind viel größer und schwerwiegender als dies die westliche Politik derzeit erkennen will. Neben der – ergebnisarmen – Notfallsitzung der EZB ist für Europa vor allem die Drosselung der Gaslieferungen wesentlich. Derzeit werden von russischer Seite technische Ursachen ins Feld geführt, aber der Zeitpunkt ist schon ein klares Signal. Es geschieht genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die EZB einräumen muss, dass ihr die Geldpolitik – allein aufgrund der Markterwartungen – aus dem Ruder laufen könnte und gleichzeitig mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Präsidenten Emanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten die drei wichtigsten Politiker der Eurozone in die Ukraine gereist waren. Hier hätten schon EZB und Politik ein Bild größerer Geschlossenheit zeigen können, weil Russland genau diese leichten Unterschiede für sich zu nutzen weiß, vor allem demonstriert Wladimir Putin sehr deutlich, wie wenig in Europa ohne ihn geht. Er kann die EZB zwingen, Beschlüsse in einer Woche zu ändern und faktisch vollständig zurückzunehmen.

 

Bisher war gesetzt, dass es keine Anleihekäufe mehr gibt, wenn es eine Leitzinserhöhung in Europa gibt. Diese Aussage wankt nicht nur, faktisch ist sie gefallen. Im Ergebnis führt dies zu dem Fehler, den schon Mario Draghi in seiner Zeit als EZB-Präsident gemacht hatte: Die Notenbank übt sich im Zinssozialismus. Die Renditen von griechischen, spanischen oder italienischen Staatsanleihen sollen nicht höher als bei deutschen Bundesanleihen mit vergleichbarer Laufzeit sein. Dies ist natürlich unsinnig. Ohne die schützende Hand der EZB und dem politischen Willen, den Euro um jeden Preis zu erhalten, lägen die Renditen der südeuropäischen Staaten zehn bis 15 Mal höher als in Deutschland oder Österreich. Dies soll durch die Maßnahmen der Notenbank und die gemeinsame Aufnahme von Schulden auf EU-Ebene kaschiert werden. Nun wird spannend sein, wie stark die Auswirkungen des Verlustes der Mehrheit im französischen Parlament für Emanuel Macron sein werden. Aber mit der Rückkehr von Zinsen kehrt auch die Risikowahrnehmung in die Märkte zurück. Wenn man für eine Nachranganleihe des Chemiekonzerns Bayer 5% p. a. bekommt, sinkt die Bereitschaft, in Aktien, Immobilien, Private Equity oder Digitalwährungen zu investieren. Daher waren die vergangenen Handelstage wie ein vorgezogener Sommerschlussverkauf: Alles muss raus. Im Wochenvergleich sind nicht nur die relevanten Aktienmärkte außerhalb von China durchschnittlich um 5% gefallen, auch das Edelmetall Platin oder viele Industriemetalle haben ähnliche Einbußen erleben müssen. Auch der Ölpreis hat scharf korrigiert und hat in den vergangenen fünf Handelstagen fast 10% an Wert verloren. Dennoch ist der Energierohstoff immer noch 50% teurer als zum Jahresanfang 2022 und der Gaspreis steigt, je weiter Russland den Gashahn zudreht. Gerade für die italienische Wirtschaft könnte eine Gasknappheit dramatisch werden, aber wenn in Deutschland bestimmte Produktionsstätten zum Erliegen kämen, könnte man sie vermutlich teilweise nicht wieder in Betrieb nehmen. Je komplexer eine Technologie und je größer die Produktions-stätte, desto schwieriger ist es, diese außerplanmäßig am Laufen zu halten. Dies alles weiß Wladimir Putin und er führt auf drei Ebenen einen hybriden Krieg: In der Ukraine wird mit modernen Waffen faktisch so wie vor 75 Jahren gekämpft, aber Russland setzt Europa mit der Verschuldung und die Welt mit der Energie- bzw. Rohstoffabhängigkeit unter Druck. Zudem erfolgt eine Desinformationskampagne mit „fake news“, Hackerangriffen und interessengesteuerter Meinungsbildung. Dieser hybriden Kriegsform setzen die westlichen Staaten nichts entgegen. Die Sanktionen sind für Russland kein wirkliches Problem, weil wichtige Staaten diese überhaupt nicht mittragen. Es ist eben keine Position „Russland gegen den Rest der Welt“. Vielmehr kann Russland viele Sanktionen unterwandern und durch die immens gestiegenen Einnahmen wirtschaftlich viel länger als derzeit in Europa und den USA erwartet aushalten. Nicht ohne Grund ist der Russische Rubel derzeit auf Jahressicht 2022 über 30% im Plus.

 

Da können weder der ebenfalls sehr rohstoffabhängige Mexikanische Peso mit knapp 10% Steigerung oder der um fast 8% gestiegene US-Dollar mithalten. Letzterer reagierte auf die stärkeres Leitzinserhöhung seit knapp 30 Jahren um 75 Basispunkte zunächst sehr stark, um dann einen Tag später noch stärker zu verlieren. In allen Segmenten werden keine Fakten mehr gehandelt; es geht bestenfalls um Einschätzungen und oft nur noch um „Bauchgefühl“. So funktionieren Kapitalmärkte nicht und der aktuell wahrnehmbare Vertrauensverlust auf allen Ebenen wird zu einem Problem. Dies lässt dann Bundesanleihen in diesem Jahr um fast 20% fallen und sorgt dafür, dass Aktienmärkte innerhalb von wenigen Minuten um einige Prozentpunkte fallen.

 

Wenn man alle Anlageklassen zusammennimmt, übersteigen die Verluste den Rückgang während der Weltfinanzkrise 2008 und 2009. Aber offensichtlich gilt, dass eine Krise solange keine Krise ist, wie sie an den Märkten nicht wahrgenommen wird. Dies ist mehr als überraschend, weil die Rückgänge in der Breite wie in einzelnen Werten teilweise schon ein historisches Ausmaß erreichen. In der Öffentlichkeit sind derzeit andere Themen wichtiger, aber es stellt sich die Frage, ob es zu Panik kommt, wenn auf die bekannten Themen noch das Ausmaß des aktuellen Crashs wahrgenommen wird. Wer derzeit – anders als bei Schön & Co – eben nicht in liquiden Wertpapieren investiert ist, sieht nicht, dass Immobilien teilweise 25% an Wert verloren haben, Private Equity kaum handelbar ist oder Gold vom Hoch auch 10% verloren hat.

 

Das Ausmaß der aktuellen Krise zeigt aber die Digitalwährung Bitcoin wie ein Seismograf, weil sich dort alle Probleme kumulieren. Es ist unklar, ob Bitcoin einen Inflationsschutz bietet, es ist eine energieintensive Technologie, die von technischen Innovationen lebt. Nicht zuletzt müssen für einen erfolgreichen Kursverlauf die Refinanzierungskonditionen günstig sein. So überraschend es nicht, dass die Marke von 30.000 US-Dollar durchschlagen und die Marke von 20.000 US-Dollar nicht gehalten werden konnte. Aber das Minus von 30% innerhalb einer Woche, fast 60% seit Jahresanfang 2022 und über 75% vom Hoch sind schon Werte, die zeigen, wie stark das Umfeld für jede Form von Risiko angeschlagen ist. Dabei verdienen viele Unternehmen Geld, die Wirtschaft läuft (noch) und die Nachfrage ist vielfach sehr gut.

 

Daher scheint die Stimmung schlechter als die Lage zu sein, aber die US-Notenbank plant eindeutig eine Rezession ein. Die Sorgen vor einer hohen Inflation dort lassen erst 2023 und 2024 nach. Deswegen rechnen viele Marktteilnehmer mit aggressiven Zinserhöhungen, die Unternehmen in großer Breite zusammenbrechen lassen würden. Daher ist es aktuell eine gute Nachricht, wenn nicht nur die Industrie-, sondern auch die Energierohstoffpreise – zumindest für Erdöl – sinken. Hier scheint Wladimir Putin aber die Daumenschrauben anzuziehen. Öl-Exporte aus Kasachstan über Russland werden erschwert, weil sich das Land nicht so loyal wie erwartet zeigte. Bestrafung und wirtschaftlicher Nutzen sind dabei für Russland eng verknüpft und schwächen vor allem Europa mit Verfügbarkeit und Preise weiter.

 

Der Text ist unser sonntäglich erscheinendes Schön&Co-Marktupdate, für das Sie sich unter info@schoenco.de jederzeit kostenlos und unverbindlich anmelden können.